Klaus Möller: Kunst im Internet (Netzkunst) - Untersuchungen zur Ästhetischen Bildung (Bielefeld 1999)

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Eine über private oder wissenschaftliche Zwecke hinausgehene Verwendung bedarf der Zustimmung des Autors.

zum Inhaltsverzeichnis


5. Abschlußbetrachtung 

Die kunsthistorische Einordnung von Netzkunst hat gezeigt, daß ein großer Teil der für diese Kunst als typisch anzusehenden Eigenschaften bereits bei ihren Vorläufern anzutreffen sind. Ähnliche technische Bedingungen führten schon bei Arbeiten von Künstlern, die Telekommunikationsmedien wie Telefon, Radio oder Fernsehen als Kunstmedien nutzten, zu Ausdrucksformen, die in der Netzkunst wieder auftauchen. Der interaktive und prozessuale Charakter von Netzkunst verbindet diese mit den verschiedenen Formen der Aktionskunst. Die Dimensionen dieser Eigenschaften nehmen in der Netzkunst jedoch neue Ausmaße an. 

Das Medium der Netzkunst ist das Internet. Dieses ist Produktions- und Präsentationsmedium in einem. Der Einsatz des Computers erfordert von Netzkünstlern umfangreiche Programmierkenntnisse oder die Einbeziehung eines Programmierers. Das Erscheinungsbild des Netzkunstwerks ist abhängig vom verwendeten Browser und vom verwendeten Bildschirm. Der Browser des Betrachters interpretiert das Werk, das vorher nur durch Daten repräsentiert wird und erst mit dem Erscheinen auf dem Bildschirm des Betrachters existiert.

Durch den Einsatz des Computers wird bei der Rezeption des Netzkunstwerks eine umfangreiche Einbeziehung des Betrachters möglich. Dieser erhält die Möglichkeit, das Werk zu verändern und damit sichtbar auf dieses Bezug zu nehmen. Er wird dadurch, daß seine eigenen Anteile am Kunstwerk sichtbar werden, mit seinem Handeln konfrontiert. Es besteht nicht nur die Möglichkeit eines Austausches mit dem Werk; die Form der Interaktion mit dem Werk ermöglicht zusätzlich die Reflexion dieser Vorgangs. 

Dazu muß man sich nicht an einen Ort begeben, der eigens für diesen Zweck vorgesehen ist. Der Ort der Rezeption von Netzkunst ist dort, wo sich Computer und Bildschirm befinden. Die Zugangsvoraussetzungen für die Rezeption von Netzkunst liegen demnach in den Zugangsmöglichkeiten zum Internet und in den sprachlichen und technischen Kompetenzen des Betrachters.

Eine Auseinandersetzung mit Netzkunst bedeutet also auch eine Auseinandersetzung mit dem Medium Internet. Im Zeitalter der digitalen Medien zeigt uns Netzkunst das Medium Internet so, wie wir es nicht kennen und eröffnet damit den Spielraum für Neuinterpretationen und Gestaltungen. Netzkünstler zeigen mit ihren Arbeiten eine Sichtweise von Welt und Gesellschaft, in der das Internet und dessen Möglichkeiten und Gefahren - zumindest indirekt - thematisiert werden. 

Diese künstlerische Auseinandersetzung fördert die Einsicht in die Komplexität der Netzwerke und ihrer Zusammenhänge. Sie kann zudem die Einsicht befördern, daß es nicht so sehr auf die technische Fortentwicklung ankommt, sondern auf die Gestaltung des Verhältnisses zwischen den Menschen und dem kreativen Prozeß, zwischen den Menschen und ihren Artefakten. Sie kann darauf aufmerksam machen, daß es sich dabei um eine politische und nicht um eine technische Herausforderung handelt. 

Dies leistet Netzkunst unter anderem durch ihre Unabgeschlossenheit und durch das Auslösen von Irritationen. Erwartungshaltungen werden nicht erfüllt; konventionelles Handeln führt zu keinem befriedigenden Ergebnis. Erschütterungen sind in dieser Kunstform gerade dort zu finden, wo Wahrnehmungsabläufe zur Gewohnheit werden, nämlich in den Formen der Interaktion. Eine perfekt geplante und reibungslos durchgeführte Interaktion ruft dabei noch nicht die Reflexion der künstlerischen Idee hervor. Erst der Anteil des Betrachters führt zur Vollendung des Werkes und ermöglicht die Reflexion. 

Das Bildungspotential von Netzkunst ist demnach auf zwei Ebenen zu finden. Auf der einen Ebene stellt sich die Rezeption von Netzkunst, wie die von Kunst im Allgemeinen, als ästhetische Erfahrung dar. Diese ist an sich schon als Bildung zu bezeichnen. Denn ästhetische Erfahrungen fördern die Orientierungs- und Reflexionsbereitschaft, die es ermöglicht, sich selbst im Verhältnis zu Gesellschaft und Welt zu sehen und sich darin immer wieder neu zu positionieren. Die zweite Ebene - die bei genauem Hinsehen als Teil der ersten angesehen kann -, an der sich das Bildungspotential von Netzkunst zeigt, ist die Thematisierung des Mediums Internet. Netzkunst beschäftigt sich zumindest indirekt mit dem Internet bzw. dem Computer als Kommunikationsmedium. Das Beispiel Jodi hat gezeigt, das im Netzkunstwerk ein Erkennen der Zusammenhänge, in denen das Werk entstanden ist und sich befindet, bereits angelegt ist. 

Der ästhetischen Bildung kommt daher meiner Ansicht nach in erster Linie die Aufgabe zu, Räume zu erschließen und Voraussetzungen zu schaffen, die eine Rezeption von Netzkunst ermöglichen und die ästhetische Erfahrung an Netzkunst fördern. 


zum Textanfang / zum Inhaltverzeichnis

(c) Klaus Möller (1999-07-17) / E-mail: klaus_moeller@gmx.de