Klaus Möller: Kunst im Internet (Netzkunst) - Untersuchungen zur Ästhetischen Bildung (Bielefeld 1999)

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Eine über private oder wissenschaftliche Zwecke hinausgehene Verwendung bedarf der Zustimmung des Autors.

zum Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung 

Mit der zunehmenden Verbreitung von Computern und Internetzugängen wird immer häufiger und vehementer gefordert, den Computer in allen Bereichen der Bildung einzusetzen und möglichst vielen Menschen den Zugang zum Internet zu ermöglichen. Dies wirft die bildungsrelevante Frage auf, wie der kompetente und bewußte Umgang mit diesem Medium vermittelt werden kann. 

Eine Möglichkeit, sich den Bedingungen und Möglichkeiten anzunähern, die das Internet mit sich bringt und diese kritisch zu betrachten, ist die Auseinandersetzung mit Netzkunst. Daher sollte meiner Ansicht nach die Bedeutung von Netzkunst für die Bildung und insbesondere für die ästhetische Bildung nicht unterschätzt werden. In dieser Arbeit gehe ich den Fragen nach, welches Bildungspotential eine Auseinandersetzung mit Netzkunst enthält und wie eine Auseinandersetzung mit Netzkunst gefördert werden kann. 

Dazu halte ich es für erforderlich, zunächst die Entstehungsgeschichte und die Charakteristika von Netzkunst herauszuarbeiten. Denn meines Erachtens ist eine pädagogisch relevante Beantwortung der oben genannten Fragen erst vor dem Hintergrund einer kunstwissenschaftlichen Erörterung der Materialien möglich. Wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema sind selbst im Bereich der Kunst- und Kulturwissenschaften kaum zu finden. Dies ist offenbar auch der Grund dafür, daß - so weit ich sehe - zu diesem Thema bisher keine bildungstheoretischen Untersuchungen vorliegen, auf die zurückgegriffen werden könnte.(1)

Da das Angebot an Print-Veröffentlichungen zu diesem Thema relativ gering ist, greife ich bei der Auswahl der Quellen vielfach auf Online-Texte zurück. Im World Wide Web (WWW) befindet sich ein Angebot an Aufsätzen, Stellungnahmen und Interviews zu diesem Thema. Das Medium Internet ermöglicht den Künstlerinnen(2) und Künstlern, parallel zu ihren Arbeiten Texte mit Hintergrund- und Zusatzinformation zu veröffentlichen.

Für den bildungstheoretischen Zugang zum Thema führe ich Ansätze der ästhetischen Bildung, John Dewey's Beschreibung ästhetischer Erfahrung sowie den rezeptionsästhetischen Ansatz ein.

Netzkunst wird vielfach unter der Bezeichnung "Kunst im Internet" subsummiert. Hierbei muß jedoch zwischen der reinen Präsentation von Kunst im Internet und der Produktion von Kunst im Internet unterschieden werden. 
Die Bezeichnung "Kunst im Internet" kann auf die Präsentation von Kunstwerken angewendet werden, die unabhängig vom Medium Internet produziert wurden und werden. Das Internet fungiert dabei als reines Präsentationsmedium. Zum anderen trifft diese Bezeichnung auch auf Kunstwerke zu, die das Internet sowohl als Präsentationsmedium als auch als Produktionsmedium nutzen. Diese Kunstwerke entstehen im Internet und sind ohne dieses nicht denkbar. Mit ihnen ist eine neue Kunstgattung entstanden, die als eine Form der interaktiven Medienkunst angesehen werden kann. Als Bezeichnung für diese Kunstform setzt sich mehr und mehr der Begriff Netzkunst (net.art) durch. Die Ausführungen in dieser Arbeit beziehen sich ausschließlich auf diese Kunstform.

Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Teil widmet sich der Entstehungsgeschichte von Netzkunst. Anhand exemplarischer Arbeiten sollen Kunstgattungen und Werke beschrieben werden, die als Wegbereiter von Netzkunst gelten können. Die Auswahl dieser Arbeiten folgt im Wesentlichen zwei Kriterien. Zum einen habe ich Arbeiten ausgewählt, die konzeptionelle Gemeinsamkeiten mit Netzkunst aufweisen (siehe Abschnitt 2.2.1 und 2.2.2); zum anderen führe ich Arbeiten an, die Telekommunikationsmedien als Kunstmedien nutzen (siehe Abschnitt 2.2.3 und 2.2.4). 

Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich versuchen, typische Erscheinungsformen von Netzkunst herauszuarbeiten. Der Einsatz des Computers als Kommunikationsmedium führt zu typischen Erscheinungsformen von Netzkunst (siehe Abschnitt 3.1). Der sichtbare Teil des Werkes wird beispielsweise zum Teil von der technischen Ausstattung des Betrachters bestimmt (siehe Abschnitt 3.1.1). Die Unterscheidung zwischen Original und Reproduktion spielt keine Rolle mehr, da ein technischer Unterschied zwischen Original und Kopie nicht mehr feststellbar ist und - was mir wichtig erscheint - das Werk in derart vielen unterschiedlichen Weisen erscheinen kann, daß es ein Original ohnehin nicht mehr gibt (siehe Abschnitt 3.1.5). Der interaktive und prozessuale Charakter verbindet Netzkunst mit ihren Vorläufern. Unterschiede finden sich jedoch in den Dimensionen dieser Eigenschaften (siehe Abschnitt 3.2). Um das Verständnis für die verschiedenen Vorgehensweisen der Netzkünstler zu erleichtern, werde ich am Ende des zweiten Hauptteils Netzkunst anhand ihrer unterschiedlichen Konzepte und Erscheinungsformen in drei Gruppen unterteilen. Netzkunstwerke lassen sich danach in Projekte unterscheiden, die Strukturen entwickeln bzw. vorgeben (Kontextsysteme), in Projekte, die vorgegebene Strukturen nutzen (Reaktive, interaktive und partizipative Projekte) und in Projekte, die Strukturen nutzen, die außerhalb des Internets liegen (intermediale Projekte; siehe Abschnitt 3.3). Hierbei sollte berücksichtigt werden, daß Kunstwerke immer interpretationsbedürftig sind und ihre Bedeutung dem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Daher kann die hier vorgenommene Klassifizierung lediglich als Anhaltspunkt für die Betrachtung einzelner Werke dienen. 

Im dritten Hauptteil dieser Arbeit werde ich anhand eines Beispiels einige bildungsrelevante Eigenschaften von Netzkunst herausarbeiten. Dazu werde zwei Theorien einführen, in denen der Betrachter eine zentrale Rolle einnimmt. Dabei handelt es sich um John Dewey's Ausführungen zur ästhetischen Erfahrung und um rezeptionsästhetische Betrachtungen, die sich mit dem Zusammenspiel zwischen Kunstwerk und Betrachter beschäftigen (siehe Abschnitt 4.1). Dewey's Ausführungen wirken sich bis heute auf Theorien ästhetischer Bildung aus. Seine Beschreibung ästhetischer Erfahrung und deren Ergänzung aus rezeptionsästhetischer Sicht sollen als Grundlage für die hier vorgenommene Herangehensweise an die Kunstwahrnehmung dienen. Im Anschluß daran werde ich einige Aufgaben erläutern, die sich für die ästhetische Bildung aus dem vorher Beschriebenen ergeben (siehe Abschnitt 4.2). 

Anhand der exemplarisch angeführten Arbeit des Künstlerduos Jodi möchte ich abschließend erörtern, welche spezifischen Möglichkeiten der ästhetischen Bildung Netzkunst bietet (siehe Abschnitt 4.3 und 4.4). Damit soll gezeigt werden, daß die Betrachtung von Netzkunst Aussagen über die Bedeutung des individuellen und gesellschaftlichen Umgangs mit dem Computer als Kommunikationsmedium ermöglicht. Kunstwerke, die nicht auf dem Medium Computer aufbauen, können dies nur bedingt leisten. Denn vielfach greifen die traditionellen darstellerischen Mittel nicht mehr, wenn es um die künstlerische Reflexion "Technischer Systeme" geht.(3)

Eine Auseinandersetzung mit Kunstwerken, die neue Technologien nutzen, sehe ich als idealen Weg an, zu erkennen, wie die neuen Medien unsere Wahrnehmung verändern(4). Mit dieser Arbeit soll gezeigt werden, daß eine Auseinandersetzung mit Netzkunst auch eine Thematisierung des Umgangs mit dem Medium Internet enthält und einen kritischen Umgang mit diesem Medium fördern kann. 


1 Im Gegensatz dazu gibt es zum Internet selbst - auch aus bildungstheoretischer Sicht - bereits ein umfangreiches Angebot an Literatur (siehe z.B. Maset 1995).

2 Um das Lesen dieser Arbeit zu erleichtern, verwende ich im Folgenden ausschließlich die männliche Form. Gemeint sind jedoch immer Personen beiden Geschlechts.

3 siehe Serverin 1994, S. 234

4 siehe Kerckhove 1993, S. 137


zum Textanfang / zum Inhaltverzeichnis

(c) Klaus Möller (1999-07-17) / E-mail: klaus_moeller@gmx.de